SIE
Ich kann nicht mehr. Warum hilft mir denn keiner? Ich schreie und schreie, bitte die Leute um Hilfe. Doch niemand glaubt mir. Er verfolgt mich. Der, den ich so fürchte. Ich höre seine Schritte, spüre seinen kalten Atem in meinem Nacken. Renne um mein Leben. Jedes Mal, wenn ich die Straße betrete, ist er da. Bin ich zuhause, vermeintlich sicher, steht er draußen. Er beobachtet mich, zieht mich aus mit seinen Blicken. Er zerstört meine Seele, raubt meine Sicherheit. Seit so vielen Jahren mache ich das nun mit. Ich kann nicht mehr arbeiten, traue mich kaum noch vor die Tür. Meine Freunde habe ich verloren, denn niemand hat mir geglaubt. Die Polizei will mir nicht helfen. Sie sagen, es sei niemand da. Doch ich kann ihn fühlen, selbst nachts. Er steht in meinem Zimmer, starrt mich an. Ich traue mich nicht zu atmen oder mich zu bewegen. Ich beobachte ihn, bis er im Morgengrauen wieder verschwindet. Ich habe Angst, dass er irgendwann aus seiner Ecke hervortritt, mir zu nahe tritt.
Schon wieder eine Nacht ohne Schlaf. Tiefe Augenränder und blasse Haut starren mich aus dem Spiegel an. Ich bin so allein mit meiner Angst, niemand ist mehr da. „All die Jahre verfolgt dich angeblich jemand…warum ist dir dann noch nie was passiert?“ Ich konnte es nicht mehr ertragen, diesen Hohn und Spott über mein Leid.
Es ist wieder soweit. Heute muss ich meinen Kühlschrank füllen. Ich gehe raus auf die Straße, da bemerke ich den Schatten hinter dem Baum. Er kommt mir näher, zu nah; eine Hand, die sich auf meine Schulter legt. Ich drehe mich um, um mich von seinen Klauen zu befreien.
Plötzlich sitze ich mit Dutzenden von fremden Menschen gemeinsam an einem runden Tisch. Wir essen. Alles sieht so aus wie in einer Kantine. Doch die Personen, die uns das Essen bringen, tragen weiße Kittel. Ich sehe mich genauer um und erblicke ein Schild. Auf diesem steht St. Katharinen-Psychiatrie – geschlossene Abteilung. Ein unglaubliches Gefühl macht sich in mir breit. Es ist Glück. Endlich bin ich abgeschieden von dem Bösen da draußen. Ich atme ein, ich atme aus, es muss so sein, nach all den Jahren. Ich atme ein, ich atme aus, ich hole Luft, ganz tief Luft. Glück durchströmt meinen Körper. Ich habe einen kurzen, klaren Moment in meinem Leben, bevor mich diese Kraft in das undurchdringliche Dunkel meines Inneren zurückzieht. Ich kann nicht anders, als hineinzugehen und den Alptraum meines Lebens weiterzuleben.
ER
Ich stehe in der Ecke, nahe dem Fuße deines Bettes. Ich kann sehen, wie du mich anstarrst. Wie du versuchst, still zu sein, nicht zu atmen. Um nicht aufzufallen, bewegst du dich nicht. Aber findest du nicht, dass das lächerlich ist? Bald hätte ich laut gelacht ob deiner Naivität. Du kleines dummes Wesen. Ich geh doch nicht weg, nur weil du dich nicht rührst. Deine Angst kann ich riechen. 24 Stunden bin ich bei dir. Ich stehe neben dir, gehe hinter dir, beobachte dich. Alles was du tust, machst du nicht allein. Ich bin beharrlich, aber bilde dir mal nichts drauf ein.
Ich kann nicht ohne dich leben. Du bist meine Obsession. Es gefällt mir, dass du weißt, dass ich da bin. Du bist so allein. Niemand ist an deiner Seite. Und das nur, weil du verrückt bist. Oder bist du es gar nicht? Was meinst du? Bin ich real, bin ich existent? Bin ich wirklich da, immer und überall? Du kennst die Wahrheit, oder? 24 Stunden am Tag ohne Schlaf, nur um dich zu sehen? Was bildest du dir ein? Glaubst du wirklich, du wärst so toll? Kein Wunder, dass dir niemand glaubt. Das klingt doch verrückt. was stellst du dich an, klagst hier rum? Du kannst doch froh sein, dass du nie alleine bist. Viele andere würden sich das wünschen.
Manchmal, wenn ich hinter dir herlaufe, erhöhe ich mein Tempo. Mein Puls rast, während ich dir immer näher komme. Ich spüre, dass du es weißt. Ich liebe deine Panik. Sehe die Gänsehaut und roten Flecken an deinem Hals. Wie du dich hilfesuchend umschaust finde ich entzückend. Ich weiß, dass dir niemals irgendwer glauben wird. Und du weißt es auch.
Mit einer bewundernswerten Ausdauer rennst du vor mir davon. Doch ich bin zäh, glaube mir. Ich höre nicht auf, dich unermüdlich zu „begleiten“. Heute, heute lass ich es drauf ankommen. Es ist mein großer Tag. Ich werde dich berühren, meine Hand auf deine Schulter legen. Und niemand wird es merken außer dir und mir. Ist das nicht schön, wir zwei gemeinsam und du doch so einsam. So tief miteinander verbunden. Ein Schauer der Vorfreude läuft mir über den Rücken. Ich zähle runter bis zu meinem großen Moment: drei, zwei, eins….
SIE
Wie ein Wirbel ziehe ich mich zurück in den Alptraum meines Lebens. Es ist, als würde mich die tiefe Dunkelheit umklammern. Dort, wo ich hineingesogen werde ist nichts außer Einsamkeit, Leere und Todesangst. Ich kann mich nicht wehren und plötzlich stehe ich wieder da. Genau dort, wo mein Alptraum ein jähes Ende gefunden hat. Hinter mir der unheimliche und unbesiegbare Mann.
Wie in Zeitlupe nehme ich seine Hand wahr, die sich langsam auf meine Schulter legt. Ich will schreien, doch ich kann nicht. Meine Stimme erstickt bei jedem Öffnen meines Mundes. Mein Herz schlägt so stark, dass es in meinen Ohren rauscht und meine Adern pochen. Oh Gott, jetzt ist es soweit, er tritt mir zu nahe. Er betritt eine neue Ebene. Er ist nicht mehr „nur“ der Beobachter. Er ist jetzt alles, was ich befürchtet habe. Er ist losgelöst. Es gibt keine Grenzen mehr. Ich drehe mich um, um mich zu befreien. Da steht er und lächelt mich an, als wär er ein alter Bekannter. Ich kenne ihn nicht. Ich weiß nur, dass er jede Nacht in meinem Zimmer steht und auch tagsüber an meiner Seite ist.
Er grinst ganz unverhohlen, nimmt mich in den Arm. Ich bin gelähmt, spüre nur noch meinen Puls. Schweiß bedeckt meinen gesamten Körper und doch zittere ich. Tief in mir drin schreie ich „Hilfe, Hilfe, kann mich denn niemand hören? Warum hilft mir keiner?“ Ein leises liebliches Flüstern erklingt in meinen Ohren: „Du weißt es, nicht wahr mein Schatz? Du weißt was jetzt passieren wird.“ Ich stehe kurz vor einem Zusammenbruch, als er die Umarmung löst, mich stehen lässt und mit einem leisen Kichern davongeht…
ER
Drei, zwei, eins…, ganz langsam lege ich meine Hand auf deine Schulter. Ich koste jede einzelne Sekunde deiner Angst aus. Dein Körper zittert und der Schweiß läuft an deinem Hals herunter. Es amüsiert mich, wie du dich umdrehst und deinen schmerzverzerrten Mund öffnest, ohne auch nur einen Laut von dir zu geben. Aus müden, blutunterlaufenen Augen schaust du mich panisch an. Vielleicht solltest du einfach mal nachts schlafen und mich nicht immer anstarren. Bei dem Gedanken daran muss ich einfach grinsen. Welche Macht ich nun über dich habe. All die letzten Jahre waren schon unbeschreiblich prickelnd, aber nun starten wir in eine neue Ära. Du weißt es. Ich weiß es. Um dir eine Ahnung davon zu geben, schließe ich dich fest in meine Arme und flüstere in dein Ohr: „Du weißt es, nicht wahr mein Schatz? Du weißt was jetzt passieren wird.“
Das Schaudern deines schmalen Körpers wird nun zu einem richtigen Beben. Ist es, weil du auch so freudig erregt bist? Oder hast du solch große Angst vor der Wahrheit? Glaube mir, wenn es jemand herausfinden wird, dann ich. Ich, dein bester Freund, dein einziger Begleiter, dein Fürst, der Tag und Nacht mit dir teilt. In guten wie in schlechten Zeiten…. Doch jetzt lasse ich dir und mir noch ein wenig Vorfreude und verlasse dich. Das erste Mal in acht Jahren, lasse ich dich alleine. Und das Beste daran ist, dass wir beide wissen, dass es so nicht bleiben wird…
SIE
Schwer atmend breche ich zusammen, nachdem er mich auf der Straße zurückgelassen hat. Alleine, das erste Mal seit acht Jahren bin ich wirklich alleine. Er ist einfach so davon gegangen. Wie kann das sein? Warum bin ich ihm so ausgeliefert? Wieso ist er immer an meiner Seite? Berührt mich das allererste Mal, seitdem er in mein Leben getreten ist, um dann einfach so davonzugehen? Ich falle zu Boden, weine und rufe: „Du Schwein, du elendiger Mistkerl. Lass mich endlich in Ruhe!“
Menschenmengen scharen sich um mich. Ich bin am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Jeden, der mir zu nahe kommt, schreie ich an: „Und ihr? Glotzt nur, aber wenn ich euch brauche, ist keiner da. Niemand ist da, niemand ist da! Warum ist nicht wenigstens einer für mich da?“ Meine Fäuste schlage ich mit einer solchen Heftigkeit gegen den Asphalt, dass aus ihnen Blut spritzt. Ich bin hysterisch, so dass ich das Polizeiauto und den Krankenwagen erst bemerke, als sie direkt neben mir Halt machen. Wie in einem Delirium bin ich auf einmal teilnahmslos, nehme keinerlei Geräusche mehr wahr. Ich atme ein, ich atme aus. Ich bin gefangen in einer Luftblase und kann nur noch beobachten. Sie geben mir Spritzen, ziehen mir etwas über den Kopf, binden mir etwas um die Hände und führen mich zu einem Wagen. Was danach geschieht, weiß ich nicht.
Bis ich schließlich in einem kleinen Zimmer aufwache. Es ist spärlich eingerichtet, ein Holz-Bett, ein Tisch, ein Plastik-Stuhl, ein Kleiderschrank. Kein Bild, kein Spiegel, keine Uhr an der Wand. Ich stehe auf und nähere mich der einzigen Tür in diesem Zimmer. Sie ist nicht verschlossen. Als ich auf den Flur hinaustrete, befinde ich mich in einem großen Gebäude mit vielen Stockwerken und einem hohlen Innenraum. Von der Ferne nehme ich Menschenstimmen wahr. Ich nähere mich mit schleppendem Gang diesem Geräuschpegel und öffne eine weitere Tür. Während ich den Raum betrete, nehme ich etwas an der rechten Wand wahr. Nur kurz, aber ich muss mich vergewissern, ob es wirklich wahr ist. Ich schaue noch einmal hin, dieses Mal genauer. Nein, das kann nicht wahr sein. Was ist hier los?
Ich kann es nicht glauben, was ich da sehe. An der Wand hängt ein Schild mit dem Namen St. Katharinen-Psychiatrie – geschlossene Abteilung. Aber das habe ich doch schon einmal gesehen. Doch war das wirklich real? Bin ich an dem einzigen Ort, an dem ich mich in den letzten acht Jahren sicher gefühlt habe. Was wird hier gespielt? Oh Gott, ich verliere meinen Verstand. Denk nach, Julie, denk nach! Was ist passiert zwischen dem Zusammenbruch auf der Straße und dem Aufwachen in dieser Einrichtung? Ich haue mir verzweifelt den Handballen gegen meinen Kopf, immer und immer wieder. Ich will all das hier endlich verstehen. Bin ich vielleicht ohnmächtig? Panik erfüllt mich. Oh Gott, wenn ich gleich wieder zurückgezogen werde in meine furchtbare Realität. Zurück in die Arme dieses Monsters. Beruhige dich, atme ein, atme aus! Vielleicht ist alles ganz anders.
Ich betrete das Zimmer, aus dem die Laute der Stimmen zu mir drängen. Ich suche jemanden, der Licht in mein dunkles Inneres bringen kann. Da, eine Frau im weißen Kittel. „Bitte helfen Sie mir. Wie bin ich hierhergekommen? Was ist passiert?“ Doch die Frau ignoriert mich. Beachtet mich gar nicht. Ich beginne, sie anzuschreien, doch erst als ich sie packe und schüttle, reagiert sie. Auf einmal kommen verschiedene Personen in Kitteln auf mich zu gerannt. Sie halten mich fest. Ich schlage um mich, doch ich habe keine Chance. Es folgt ein Piecks in meinen Arm, danach schwebe ich über den Flur. Ich versuche klar zu denken. Anscheinend trägt man mich zurück in das kleine Eckzimmer. Doch so sehr ich auch kämpfe, ich kann nicht wach bleiben.
Als ich wieder erwache, bemerke ich die Fesseln an meinen Händen und Füßen. Eine Frau steht mit dem Rücken zu mir gewandt. Ich rufe sie, bitte sie um Hilfe. „Bitte, helfen Sie mir. Warum werde ich gefesselt wie eine Schwerverbrecherin? Ich bin das Opfer, kein Täter.“ Die Frau dreht sich langsam zu mir um. Ich erkenne sie und Angst erfüllt meinen ganzen Körper. In Schockstarre sehe ich, wie sich mir das bekannte Gesicht Schritt für Schritt nähert.
ER
„Hallo Süße, damit hast du wohl nicht gerechnet. Ist das nicht schön, dass wir uns so schnell wiedersehen? An deinem heiligen Ort?“
Was für ein Kribbeln ich verspüre. Es ist herrlich, sie da so liegen zu sehen. So ausgeliefert und verloren. Wie sie mich ansieht. Voller Angst und dennoch voller Gedanken.
„Ich weiß, dass du dich gerade fragst, wie das nur alles möglich sein kann. Aber wie sollst du das schon verstehen du einfältiges, kleines Wesen?“
Langsam nehme ich die Langhaar-Perücke ab.
„Hast du dich denn nie gefragt, wie ich in deine Wohnung komme? Wie ich Tag und Nacht bei dir sein kann? Welche Macht ich besitze, um dir selbst hier so nahe zu kommen? Schau dich um. Wir sind ganz alleine. Niemand ist da, um dir zu helfen.“
Ich gehe zu ihrem Bett, streichle sanft über ihre Wange, den rechten Arm und ihre Hand. Sie versucht meiner Berührung auszuweichen, doch sie kann nicht. Sie ist vollkommen wehrlos. Dann kann ich nicht mehr anders. Ich stürze mich auf sie und schüttle ihre Schultern „Denk nach Julie! Denk nur einmal nach! Du weißt es, verdammt nochmal. All die Fragen, all die Rätsel. Du kennst die Antworten. Aber du willst sie nicht sehen. Willst mich nicht sehen. Aber ich bin real. Ich bin hier bei dir. Und ich lasse dich nicht allein. Nie mehr lasse ich dich unbegleitet. Nur du kannst dir selbst helfen. Also besinne dich! Was will ich wohl von dir? Du weißt es doch ganz genau. Höre in dein Inneres! Erinnere dich! Du kennst mich doch schon viel länger. Es war nicht das erste Mal, dass wir uns heute gesehen haben und du weißt das ganz genau.“
„Ja, ich weiß es“ sagt sie mit bibbernder, leiser Stimme. Vier Worte, die mich das pure Glück spüren lassen.
SIE und ER
Ich schließe meine Augen und rufe „Hör auf, hör bitte auf!“ Ich brülle so laut ich kann. Endlich habe ich meine Stimme wiedergefunden. „Sei endlich still. Lass mich in Ruhe!“ Ich weine und schreie. „Oh Gott, lass mich endlich in Frieden. Verschwinde!“
Dann öffne ich langsam die Augen und bemerke, dass ich mir die Ohren zuhalte. Ich liege nicht mehr gefesselt in meinem Bett, sondern befinde mich in einem ganz anderen Zimmer. Es ist vollgestellt mit Büromöbeln. Ich schaue an mir herunter und sitze vollkommen frei auf einem grünen Ohrensessel. Das Mobiliar ist antik. Hohe Decken mit Stuckverzierungen fallen mir ins Auge. Und da sehe ich ihn, in der linken Ecke. Ein fremder Mann. Er dreht sich um zu mir und spricht mit sanfter Stimme: „Sehr gut haben Sie das gemacht. Sehr gut. Das ist der Durchbruch. Wir beide haben es geschafft. Sie haben gekämpft, doch am Ende konnten Sie die Wahrheit nicht mehr verleugnen. Sie wissen jetzt alles, stimmt es?“
„Ja, ich weiß es nun. Doch wie lange war ich hier?“
„Acht Jahre. Diese Zeit haben wir beide immer wieder zusammen verbracht.“
Ich schüttle meinen Kopf.
„So eine lange Zeit? Das ist ja furchtbar. All die Jahre sind verloren.“
Der Mann tritt an mich heran, legt mir seine Hand auf die Schulter.
„Aber es war nicht unnötig. Sie haben den Kampf gewonnen. Sie haben es endlich geschafft. Jetzt beginnt Ihr Leben.“
Ich betrachte meine Hände, den Körper, der so lange nicht zu mir gehörte. Langsam erhebe ich mich von dem Sessel und gehe zu dem großen Wandspiegel mit Goldrahmen.
„Sehr schön, Sie machen das Richtige. Schauen Sie sich genau an.“
Jeder Schritt tut mir weh. Es macht mir Angst, gleich zu sehen, wer ich bin. Ich schaue in den Spiegel. Der Mann fragt mich, was ich sehen kann. Und ich sage es ihm, da ich es endlich wieder weiß und die Wahrheit nun unvermeidlich ist. Tränen laufen mir aus meinen mit roten Äderchen durchzogenen Augen herunter, während ich mehr zu mir selbst, als zu dem Mann sage, der mein Psychiater ist: „Ich sehe mich, Julian Kross. Ich sehe mich, den Freund und Mörder von Julie Albaron.“

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